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Europa - die alte Kuh

Es gibt da eine große Pfütze bei Treuchtlingen in Franken, vielleicht Hundert und ein paar Meter lang, mooriges schwarzes Wasser, eingetieft um gut einen Meter. Es ist der Rest eines Europatraums, die "Fossa Carolina“. Ein Stück des von Karl dem Großen geplanten Kanals, der als Verbindung von Main und Donau die Regionen Mitteleuropas näher aneinander bringen sollte, selbstverständlich gemeint: sie beherrschbarer zu machen. Er wurde nicht weitergebaut, der Regen des Herbstes 786 und ein weiterer Aufstand der grausam zum Christentum gezwungenen Sachsen stoppten das große Vorhaben. Karls Blick ging fortan nach Süden, nach Rom, sein Reich brauchte als Kitt die Kaiserkrone. Das Projekt versank im Schlamm der Altmühl. 
Mit dem gehörigen Respekt auf das moorige Wasser schauend, kann man schon einmal über die Geschichte des Europagedankens nachsinnen. Es hat nicht an Versuchen gefehlt, Europa zu vereinen. Bei diesem Wort schon stockt der Gedanke, denn bei allen Versuchen, Europa zu schaffen und immer durch Krieg schaffen, wurde Europa niemals wirklich geeint sondern nur zerrissen. Der Schlachtenlärm, das Heulen der Granaten, waren stets die martialische Begleitmusik der imperialen Süchte. Europa war nur denkbar und machbar unter dem Zeichen von Gewalt. Eine Variante der Europapolitik war die dynastische Heirat. Miteinander versippt und verschwägert hat es Fürsten und Könige jedoch nicht gehindert, ihre Untertanen um oft billigen Vorteil auf einander eindreschen zu lassen. Selbst das Kreuz wuchs in die Länge, wurde scharf und schneidend, mutierte unter dieser Idee zum Schwert. So war das Europa der Imperien eine Blut triefende Idee.


Aber es gab indes immer auch einen friedlichen Weg der Annäherung, des Austauschs von materiellen und geistigen Gütern über Handel und Wandel, über Wissenschaft und die Künste. Man muß, um von europäischer Kultur zu sprechen, nicht bei der Megalith-Kultur anfangen, aber doch beim Mittelalter, das die Historiker nicht willkürlich mit Karl dem Großen beginnen lassen. Mit ihm setzt in der ersten Renaissance eine glänzende Periode von europäischer Kunst und Wissenschaft ein. Unter seinem angelsächsischen Kanzler Alkuin wird die erste Gelehrten-Akademie nach der Antike berufen, intereuropäisch, in Tours eine Hochschule der antiken Wissenschaften gegründet. Der karolingische Pfennig wird Währung im ganzen damaligen Europa. Eine einheitliche Liturgie soll die Länder und Regionen zusammenhalten. Es gibt übrigens auch schon eine gesetzliche Armenpflege in seinem Reich (von seinen Nachfolgern schleunigst abgeschafft). Selbstverständlich war Europa an der Elbe zu Ende. Ostwärts terra incognita, Magdeburg eine Grenzfeste. Sicher, Karls Herrschaft war blutig, 4500 geköpfte Sachsen nach ihrem letzten großen Aufstand.

Nach dem auseinanderbrechen des Reichs, über die Grenzen der sich bildenden Teil-Staaten hinweg, funktionierte weiterhin der Austausch von Informationen. Maurische Einflüsse in den Kirchen der Toscana. Der Meister von Como, die lombardischen Architekten und Steinmetzen bei den romanischen Kirchen des Vorharzes ebenso wie in Wladimir oder an der Kirche am Nerl, nördlich von Moskau. Der europäische Siegeszug der gotischen Architektur von Frankreich aus. Um 1400 dominiert in der europäischen Malerei der "Internationale oder Weiche Stil". Italienische Stuckateure im barocken Europa. Der Maler Tiepolo in der Würzburger Residenz, Leonardi da Vinci in Frankreich...


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Der musikalische Austausch war immer besonders intensiv, genügen doch ein paar Notenblätter zur Information. Der englische Komponist John of Dunstable steht an der Wiege der 1. niederlandischen Schule. Die Niederländer wiederum beeinflussen die italienische Musik. Josquin de Prés wirkt in Rom und Mailand, dann ist er im Dienste von Louis XII, schließlich beim deutschen Kaiser Maximilian I. Adrian Willaert, der Kopf der vierten niederländischen Schule wird zum Begründer der venezianischen Schule, zuvor hatte er in Ungarn und Böhmen seine Spuren zu hinterlassen. Orlando di Lasso, einer der fruchtbarsten Komponisten der ganzen Musikgeschichte, ist ebenfalls Niederländer, seine Hauptwirkungsstätte aber München. Der Austausch zwischen den Niederländern und den Italienern führt zur Kunstform des Madrigals, das am Anfang der neueren Musikentwicklung und auch der Oper steht. Jetzt muß alles nach Italien reisen. Nicht erst Winckelmann, schon Heinrich Schütz fährt, ausgerüstet mit einem Stipendium seines Landesherrn für drei Jahre nach Venedig. (Nur J. S. Bach geht nicht nach Süden, er pilgert nach Lübeck zu Buxtehude.) Die tschechischen Musikerfamilien der Benda und Stamitz stehen mit an der Wiege der deutschen Klassik. Bildende Kunst, Architektur, Musik, wortlose Künste, sie alle haben es leicht, Grenzen zu überspielen, aber selbst in Literatur und Philosophie setzten die Sprachbarrieren keine unüberwindlichen Hindernisse. Das klassische Weimar ist ein gutes Beispiel für europäischen und weltoffenen Geist. Goethe konnte sich für Lawrence Stern ebenso begeistern wie für Hafis. Herder widmet sich den "Stimmen der Völker in Liedern". Wieland übersetzt neben Euripides und Aristophanes auch Shakespeare. Das alles ist ja bekannt; es soll auch nur erinnert werden an das friedliche Europa, das immer ein Ort, ein Luftreich der Künste und der Künstler war. Die geistigen Eliten dachten nicht in den politischen Grenzen. Es waren die Intellektuellen und Künstler immer welt- und europaoffen. Immer - bis mit den nationalen Schulen der Romantik, nach dem Rationalismus der Aufklärung leider auch Irrationalismus und Nationalismus hochkamen und die Intellektuellen und Künstler anfällig wurden für das Gift des Chauvinismus, als ein deutscher Dichter schreiben konnte "Deutschland, Deutschland über alles in der Welt.


Für den sogenannten Mann von der Straße, Frauen standen noch unerlöst am Spülstein, hat es Europa nur gegeben in Form von Geschichten und Geschichtchen, erzählt von reisenden Händlern, vorgetragen auf Jahrmärkten und Messen. So zogen etwa Schausteller durch Europa, die das Urteil im Prozeß Friedrich II. gegen den Müller von Sanssouci als Exempel weiser und nachahmenswerter Regentschaft darstellten. Wie mag sich da Preußen in den Köpfen z.B. der Lissaboner Handwerker gemalt haben? Was wusste ein Bauer von Gelmeroda über England, Frankreich, gar Norwegen? Einzig die Männer kamen gelegentlich etwas herum, lernten die Nachbarn gründlich missachten - und hinterließen bei ihrem Geschäft Rauch und Trümmer. Weiß heute der Normalbürger mehr von Europa und der Welt, dank TUI, LTU, Neckermann-Reisen, dank Fernsehen? Der Urlauber jettet an die Costa Brava, wohnt in einem synthetischen Urlauberdorf, isst sein Schnitzel, trinkt sein Bier aus Deutschland, und lernt die Spanier vor allem als Bedienungspersonal kennen. Nach Hause zurückgekehrt, hat der Urlauber ein festgefügtes Bild vom Gastland.

Es ist merkwürdig, und es scheint dem Schreiben als Eigentümlichkeit innezuwohnen, daß jede Reflexion über heutige gesellschaftliche Phänomene eine Tendenz zur Skepsis entwickelt. Liegt es nur am Schreiben und daher langsameren und gründlicheren Überlegen? Das hieße im Umkehrschluss, Optimismus wäre immer eine Folge von Leichtfertigkeit. Schließlich gibt es auch andere, "empfindsamere Reisende durch Frankreich und Italien", und selbst die anspruchslose Form des Reisens ist der von marschierenden Compagnien allemal vorzuziehen. Länder, die man, auf welchem Niveau auch immer, bereist hat, kann man sich als Feindesland nicht mehr ganz so gut vorstellen.

Ein Indikator für Annäherung sind immer die Beziehungen zum unmittelbaren Nachbarn. Gerade hier hat sich im Europa der Nachkriegszeit, wenn wir den traurigen Balkan einmal herausnehmen, eine positive Entwicklung vollzogen, obwohl unser Austausch mit den östlichen Ländern immer noch zähflüssig ist, wofür die Schuld (wenn wir von der historischen Hypothek absehen) auf beiden Seiten zu suchen ist. Aber es geht vorwärts, den Rest wird der Euro erledigen. Wird er das? Und was ist das für eine doppeldeutiges Wort "erledigen"? Erfüllen oder zur Strecke bringen?

In den letzten Jahrzehnten haben sich die Lebensverhältnisse im Bereich der EG und der EU aneinander angeglichen. Globetrotter, Irlandkenner meinen z.B., das Land habe sich seit seiner Mitgliedschaft in der EG zu seinem Nachteil verändert, sei im Begriff, seinen Charme zu verlieren. Dazu kann ich wenig sagen, ich habe die Möglichkeit eines Irlandbesuchs und des Vergleichs erst seit zehn Jahren. Vielleicht fehlt dem Beobachter nur die Armut der Dörfer früherer Jahre. Armut ist immer pittoresker als Reichtum, sie suggeriert dem Besucher auch das Gefühl, seine Besserstellung verdanke sich der eigenen Vorzüglichkeit.


Klar ist, das vereinigte Europa war und ist nicht das Traumgebild des Mannes von der Straße, es ist die Forderung der Wirtschaft. Zudem ist der Prozess der Verschmelzung auf wirtschaftlicher Ebene bereits in vollem Gange, auch über Europa hinausreichend als Globalisierung. Weltweite Fusionen von Banken und Wirtschaftsunternehmen sind seit einiger Zeit ständiger Gegenstand von Spitzenmeldungen in Nachrichtensendungen. Und was ist nicht schon alles über den ganzen Globus hinweg gleichgeschaltet. Ich will aber nicht von der Wirtschaft sprechen, das müssen Kompetentere tun, sondern ich will versuchen bewusst zu machen, wie diese Entwicklung im Alltag jedes einzelnen bereits in voller Fahrt über ihn hinwegrollt. Schon hat die Entvölkerung ländlicher Regionen und die zunehmende Industrialisierung in der Landwirtschaft zum weitgehenden Verschwinden der bäuerlichen Kulturen geführt, die nur noch in natürlichen oder künstlichen Schutzräumen überleben. Im Gegenzug entwickelt sich in den großen Städten eine supranationale Kultur, die sich unbefangen der verschiedensten Wurzeln bedient, dominiert von US-amerikanisch-europäischer Idiomatik und Ästhetik, kolonialistisch alles plündernd, was die Ethnien von den Aborigines bis zu den Inuit zu ihrem kulturellen Besitz zählen. Die Unterhaltungsindustrie hat alles gleichgeschaltet. Von wenigen Zentren aus wird der jeweils herrschende Geschmack gesteuert. Der Feierabend eines jungen Zeitgenossen in der Grossstadt, wo immer er leben mag, sieht etwa aus wie folgt: Der Mensch verläßt in der gerade angesagten Kleidung den Arbeitsplatz, geht durch Straßen industriell gefertigter Häuser, architektonisch austauschbar, geht essen zum Chinesen, zum Italiener, Griechen, Inder, oder zu McDonald’s (heute in etwa 200 Ländern präsent), man isst daselbst weltweit das gleiche Brot (falls das Wort noch anwendbar ist), dippt die gleichen Soßen, das Interieur ist auch das gleiche, man trinkt weltweit das gleiche braune Gebräu, die Papillen gleichen sich einander an, Globalisierung im Mund-Rachen-Raum. Anschließend geht man nach Hause und surft im Internet. Botschaften werden zwischen Ländern, Kontinenten hin und hergejagt in einem amputierten Englisch, Zeit ist knapp und kostet auch, man chattet hin und her in einer aus dem Angloamerikanischen kommenden Kürzelsprache. Vielleicht ist man vom Burger-Restaurant in die Disco gegangen, wo DJs die weltweit gleichen abgefahrenen Hits auflegen. Oder man ist ins Kino, wo man den jeweils obligatorischen Film sieht. Der Druck der über Satellitenschüsseln, Internet, Film und Videos vermittelten Informationen auf die Identitäten ist enorm, sowohl was die einzelnen Individuen betrifft als auch das kollektive Bewusstsein. Anpassung ist der einzige Schutz vor Ausgrenzung.
Die auf der Basis von Unterhaltung weltumspannende Kommunikation ist eine völlig neue gesellschaftliche Erscheinung. Es herrscht ein Unterhaltungsmanagement, das ein Volk nach seinem perversen Bilde im Begriff ist, sich zu schaffen. Weltweit wird der wummernde Beat der glitzernden Scheiben erbarmungslos aus den Köpfen der glücklichen Verlierer hämmern, was an Resten nationaler Musik-Kulturen noch vorhanden ist. Bevor der Hunger in der Welt besiegt sein wird, falls er je besiegt werden sollte, wird die Goldbronze der Unterhaltungsindustrie die Kulturen der hungernden Völker hinweggefegt haben, besiegt durch Fast-Food, Cola, Webber, Hollywood, besiegt durch ein aggressives Marketing, das die Fortsetzung der Kolonialisierung mit anderen Mitteln ist.


In diesem globalen Zusammenhang ist Europa zu sehen, das wirtschaftlich und kulturell beerbt und möglicherweise enterbt werden wird. Dieser Kulturraum, bei aller Verschiedenheit der Länder und Regionen eng miteinander verflochten, der eine gemeinsame historische Basis hat auf der Grundlage der christlichen Religion, gleich ob man sich zu ihr bekennt oder nicht, könnte zu einer entstehenden Weltkultur einen bedeutenden Beitrag leisten, könnte dem Mainstream von Event-Making, New-Age Religionsersatz und einem Tsunami des Unterhaltungsschwachsinns sich entgegenstellen. Es erhebt sich nun die Frage, wie Europa sich überhaupt behaupten kann, falls es das will.

In dem Prozess der Verteidigung seiner Kulturgüter hätte die Regierung eines gemeinsamen Europa eine herausragende Verantwortung. Selbstverständlich muß die Pflege der Nationalkulturen weiterhin den Regierungen der Mitgliedsländer oder ihrer Regionen obliegen, die Kulturhoheit der einzelnen Mitgliedsländer muß ein unbedingtes tabu bleiben und darf nicht angetastet werden. Hier, auf der nationalen Ebene, dürfen Regierungen, nach dem Modell des US-amerikanischen Sponsoring schielend, sich nicht aus der Verantwortung für Kultur und Wissenschaft stehlen. Sponsoring orientiert sich immer nur nach dem Mainstream. Volkswagen sponsorte Rolling Stones, wer sponsorte hier wen?


Für die Nischen, die Off-Kultur ist es hingegen schwierig wenn nicht unmöglich, private Geldgeber zu interessieren. Und doch ist hier die Hefe zu finden, denn an den Rändern entsteht das Neue. Das gilt für Weltgeschichte wie für die Kunst. Parallel zu der nationalen Verantwortung für Kultur ist Gesamteuropa als ein Schutzraum zu behandeln. Ein besonderer Stellenwert kommt z. B. dem Schutz der Künstler und Autoren zu. Das Urheberrecht als Existenzgrundlage europäischer Autoren darf nicht dem anglo-amerikanischen Copyright geopfert werden. Das Urheberrecht sei unantastbar, sein Schutz ist in einer vom Internet bereits unterwanderten Grauzone dringend. Brüssel fällt die Aufgabe zu, hier und anderswo drohenden Schaden abzuwenden, was, wie man schon an der Frage der Buchpreisbindung sehen konnte, offenbar euphemistisch gedacht ist. Solche Entscheidungen dürfen nicht an einzelnen Personen, wie einem hartleibigen Wettbewerbskommissar hängen. Brüssel muss kulturell bedrohte Regionen unterstützen, noch gibt es Reste von unverfälschter Folklore und es gibt kulturell unterversorgte Regionen. Brüssel muss vor allem Projekte fördern, die dem Geist der europäischen Verständigung dienlich sind. Verständigung stellt sich dar als eine eminent politische Aufgabe, denn dieses Europa wird zuallererst Mercur gehören, er profitiert von den großen Märkten, während seine Trucks von Finnland nach Portugal fahren, wohingegen der Mann von der Straße, sich fragend, was er davon hat, der Arbeitnehmer, sich einem höheren Konkurrenzdruck ausgesetzt sieht, noch gesteigert, wenn eines Tages die EU-Grenzen in Richtung Osten sich öffnen werden. Beim Kampf um den Arbeitsplatz werden alte Feindschaften reanimiert werden.

Das Ziel einer europäischen Kulturpolitik muß sein, durch multinationale Projekte gegenseitige Akzeptanz zu erzeugen, die die Voraussetzung ist für Verstehen. Solche Projekte gibt es bereits, nur ist der dafür bereit gestellte Kulturetat der Gemeinschaft lächerlich gering, im Jahre 2000 soll er so viel wie der Etat eines großen deutschen Opernhauses betragen, ca. 65 Mio., das sind 0.04% des Gesamt-Etats der EU. Nullkommanullvier Prozent! Es scheint, der uns vertraute Gedanke, daß Ausübung und Wahrnehmung von Kultur in all ihren Ausprägungen, auch Unterschieden der Kitt einer Gemeinschaft sind, dieser Gedanke scheint in Brüssel noch unbekannt, mindestens ist er bisher folgenlos.

Verständigung darf nicht heißen Nivellierung sondern Verständnis für die nationalen Eigenheiten. Die kulturellen Unterschiede sind ein Kapital Europas, sie sind zu bewahren, als quasi kulturelle Genbank. Der Euro wird sicherlich eine verbindende Wirkung haben. Sich von ihrer D-Mark zu trennen, von ihrem Franc, wird Deutschen wie Franzosen schwerfallen, aber vielleicht verschwindet mit den Banknoten auch etwas vom nationalen Dünkel, der an den Scheinen klebt. In der Tat: ohne Euro kein Europa. Trotzdem kann ich dem neuen Geld keine ungetrübte Freudenhymne singen. Ich sehe längerfristig eine einebnende Wirkung des gemeinsamen Marktes. Die Vielheit der Sprachen wird zwar den Prozess verlangsamen, er wird anders verlaufen als er im Immigrationsland USA vor sich ging, letztendlich wird er aber gleichfalls zu einer Dominanz des Englischen führen, sicher nicht in seiner nobelsten Form, und es wird die anderen Sprachen überlagern, verändern, korrumpieren. Das Warenangebot Europas wird unsere Erlebnis-Mega-Supermärkte aus allen Nähten platzen lassen. Ich erahne schon weitere Felder im Berliner Umland, "vernünftigeren" Zwecken dienend, unter Beton verschwinden.

Ich habe eine Schreckensvision: Ich sehe unsere Enkel in einem vom Handel durchgestylten Europa: Ein einziges Einkaufsparadies, Kosmetik parterre, Damen 1. Stock, Lebensmittel im Souterrain, mit McDonalds und Disneyland’s, alles berieselt von nicht endender Muzak, alle von einem obligatorischen Event zum nächsten gejagt, ohne Arbeit aber ständig beschäftigt mit Konsum und Unterhaltung, denn sie müssen beschäftigt werden damit nicht Vakuum entsteht, gefährliche, tödliche Langeweile, denn sie haben vieles gelernt in der Schule, aber sie haben nicht gelernt mit ihrer Freizeit sinnvoll umzugehen. So wird pausenlose Unterhaltung zu einer politischen Aufgabe. Sonst hilft nur der ultimative Kick, man bringt sich selbst oder gegenseitig um. Es ist nur eine Vision, selbstverständlich realitätsfern.


Es gibt eine umgehende Angst in Verbindung mit dem neuen Europa, das Wort dafür lautet: Überfremdung. Bezeichnet es eine tatsächliche Gefahr oder ist es nur die eingebildete Gefahr, die einzig aus dem angstmachenden Wort droht? Es ist klar, daß Deutschland mit seinem Lebensstandard, mit seinen sozialen Sicherungssystemen, seinen hohen Löhnen, dem Interesse der Wirtschaft an billigeren Arbeitskräften, mit seinen langen, nach Osten nicht kontrollierbaren Grenzen ein ideales Land für legale und illegale Immigration ist. Da Deutschland nie eigentliches Einwanderungsland war, gibt es eine latente oder offen gezeigte Angst vor dem Verlust der eigenen Identität. Da beruft man sich dann auch gern auf die deutsche Kultur, von der man zwar im allgemeinen kaum etwas weiß, aber sie eignet sich als sozusagen höheres Argument. Auch wenn man anderer Meinung ist, muß man diese Ängste ernst nehmen, weil sie ein schwer zu kalkulierender und politisch gefährlicher Faktor sind. Daher finde ich überlegenswert, ob in Deutschland lebenden Ausländern das Erlernen der deutschen Sprache nicht zur Pflicht gemacht werden sollte. Die Sprache ist nun einmal das wichtigste Bindeglied zwischen Menschen, die unabdingbare Voraussetzung für Integration.

Die Grenzen werden noch offener werden für honette Personen und Spitzbuben. Die Künstler, die ihre Heimat zuerst in der Kunst haben, werden noch mehr in den Gegenden Europas herumziehen als je zuvor. Der physische Ort wird angesichts der Kommunikationssysteme immer nebensächlicher. Da kann der Komponist Peter Maxwell Davies auch nach Hoy, der abweisendsten der Orkney-Inseln ziehen, angeschlossen an die Welt, wenn er es will, bleibt er doch. Es wird jeder Künstler, aber nicht nur dieser privilegierte Stand in größerer Freiheit für sich entscheiden können, wie und wo er leben und arbeiten will. Das Zentrum kann ein geografischer oder ein geistiger Ort sein. Europa bietet solche Orte in beiderlei Hinsicht. Mein idealer geografischer Ort wäre ein winziges Dorf mit weitem Blick über Felder hin auf einen schwach ausgeprägten Höhenzug am Horizont, das Dorf läge bei ausgezeichneten Verkehrsbedingungen nahe bei einer großen Stadt.

Das Jahr, das mit den vielen Nullen ausgezeichnet ist, bezeichnet den falschen Anfang des Jahrtausends, und das Dezimalsystem ist kein Naturgesetz, aber es regt manchmal zum Nachdenken an. Und das ist auch etwas. So flüchten die Gedanken aus diesem blutigen Jahrhundert und gleiten hinüber ins nächste in der vagen und leider durch nichts begründbaren Hoffnung, es möge weniger gewalttätig sein.



(1999)


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